Die Eule und die Schnecke
Wie kann einerseits die Wertabspaltungskritik aus ihrer Theorieblase herausfinden? Wie kann man andererseits die Fallen der falschen Unmittelbarkeit vermeiden?
Ernst Schmitter
Wer die Geschichte und den gegenwärtigen Zustand des Kapitalismus verstehen möchte, kann die Klarheit, die uns die Wertabspaltungskritik (im Folgenden WAK), verschafft, nur begrüßen. Sie zeigt, dass die DNA des Kapitalismus unter dem Zwang der universellen Konkurrenz zwei unvereinbare Elemente enthält: einerseits die absolute Notwendigkeit, immer mehr Wert zu produzieren, während die für die Reproduktion unerlässlichen Tätigkeiten, die keinen Wert produzieren und denen daher der Titel der Arbeit verweigert wird, zumeist an die Frauen delegiert werden; andererseits die nicht weniger absolute Notwendigkeit, die Produktivität ständig zu steigern, d.h. schrittweise das aus dem Produktionsprozess zu entfernen, was die eigentliche Substanz des Werts ausmacht: die Arbeit. Ein entscheidender Widerspruch, der den Kapitalismus unweigerlich zu seiner eigenen Zerstörung führt. Denn der Konflikt zwischen diesen beiden systemimmanenten Tendenzen ist fundamental und daher unvermeidlich. Daraus ergibt sich eine unumkehrbare Dynamik dieser »schönen Maschine« (Adam Smith), die sie gleichzeitig an zwei Grenzen treibt: die innere Grenze der Wertverwertung, die den wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und zivilisatorischen Zusammenbruch verursacht; und die äußere Grenze, die durch das Ökosystem Erde gesetzt wird und die Ursache für den ökologischen Zusammenbruch ist. Diese eindeutige Diagnose ist für all jene, die an die Verbesserbarkeit des Kapitalismus glauben, d.h. für fast alle, unerträglich. Daher stößt die WAK auf wenig Sympathie: Ihre Rolle ist die der Kassandra.
Diese Theorie, die einerseits sehr geschätzt, aber andererseits ebenso sehr verabscheut wird, erklärt unübertrefflich klar, was mit dem warenproduzierenden System im Endstadium passiert. Aber sie kommt leider etwas spät, da sie uns ihre Analyse sozusagen »in Echtzeit« liefert. Um die Rolle der Philosophie in der menschlichen Gesellschaft zu charakterisieren, wählt Hegel die Metapher einer Eule, der Eule der Minerva, die erst bei Beginn der Dämmerung ihren Flug beginnt (Vorwort zu den Grundlinien der Philosophie des Rechts, 1821). Genau das ist die Rolle der WAK in der kapitalistischen Gesellschaft: Sie hilft uns zu verstehen, warum die kapitalistische Welt, d.h. die Welt insgesamt, ihrem Untergang entgegengeht. Sie erklärt die Grundlagen des Kapitalismus und die diesem System innewohnenden Tendenzen auf eine Weise, wie es keine andere Theorie vermag. Aber sie tut dies genau in dem Moment, in dem die Welt in einer wirtschaftlichen, ökologischen, klimatischen, sozialen, politischen und moralischen Katastrophe versinkt – einer Katastrophe, die ihr Untersuchungsgegenstand ist. Wir sind sowohl Zeugen als auch Opfer des Todeskampfs dieses Systems, zu dem wir gehören. Die Schlussfolgerung wäre daher nicht ungerecht, dass das Hauptverdienst der WAK das Verdienst eines Biologen ist, der einem Sterbenden geduldig die Bösartigkeit seines Tumors erklärt.
Um wenigstens eine minimale Chance zu haben, das Schlimmste zu verhindern, müssen die Menschen dieses todbringende und selbstzerstörerische System, das wir Kapitalismus nennen, unbedingt so schnell wie möglich loswerden. Das sagt uns die WAK immer wieder. Doch wenn es um die Frage geht, wie wir das anstellen sollen, bleibt sie auffallend diskret. Es ist sogar erstaunlich, dass in Zeiten des Klimawandels, der brennenden Wälder, der Dürren und Überschwemmungen und der Wasserkriege die Gruppen, die diese Theorie entwickeln, mit beeindruckender Gelassenheit darauf beharren, »reine Theorie zu betreiben«. Als befänden wir uns noch in den 1960er Jahren, wo die Frage, ob die Kritische Theorie sich ein bisschen mehr oder ein bisschen weniger auf das Leben der Menschen auswirken konnte, bedeutungslos war. Sie wirkte sich ja überhaupt nicht aus.
Wie lässt sich diese Zurückhaltung der WAK erklären? Man kann die Frage zu beantworten versuchen, indem man sich bewusst macht, dass der Ausstieg aus dem Kapitalismus eine viel schwierigere Aufgabe ist, als es den Anschein hat. Bewährte Problemlösungsstrategien sind nämlich in diesem Zusammenhang zum Scheitern verurteilt, auch wenn diese Strategien normalerweise zur Lösung superkomplexer Probleme eingesetzt werden können. Und zwar weil der Ausstieg aus dem Kapitalismus nicht ein einfaches oder komplexes Problem ist, das man mit Geduld und Beharrlichkeit mittels einer gut erprobten Methode lösen könnte. Der Ausstieg aus dem Kapitalismus ist ein totaler Bruch mit allem, was uns vertraut ist, und zuallererst mit der Vorstellung, dass die kapitalistische Gesellschaft mithilfe einer Reihe kompetenter Institutionen (Staat, Politik, Justiz) und gut funktionierender Instrumente (Wissenschaft, Wirtschaft, Demokratie) in eine nichtkapitalistische Gesellschaft umgewandelt werden könnte. Es gibt zwar Autoren, die sich auf die WAK berufen und die tatsächlich von der Notwendigkeit einer Transformation, eines Transformationskampfs[1] sprechen; aber sie erwägen nie, auf die genannten Institutionen und Instrumente zurückzugreifen, da diese Institutionen und Instrumente integraler Bestandteil des Systems sind, das es abzuschaffen und zu ersetzen gilt. Die WAK hat dies wiederholt gezeigt, insbesondere in den Schriften von Robert Kurz. Es wird also nicht nur darum gehen, das zu erreichende Ziel – die Abschaffung und Ersetzung des Kapitalismus – genau zu kennen, sondern auch darum, unterwegs dorthin nicht einen falschen Weg einzuschlagen.
Es ist unter anderem diese Schwierigkeit, die eine mehr oder weniger strikte Weigerung der meisten WAK-Autorinnen und Autoren zur Folge hat, sich für die praktische Umsetzung der Ergebnisse ihrer theoretischen Arbeit zu interessieren. Diese Ablehnung ist übrigens charakteristisch für die Kritische Theorie seit der Frankfurter Schule. Sie könnte allein schon den Stoff für eine Untersuchung liefern, die hier jedoch nicht beabsichtigt ist. Halten wir einfach fest, dass es vor allem um das Problem der falschen Unmittelbarkeit geht, wie die WAK es nennt. Dieser Begriff, der bereits bei Lukacs und später bei Adorno zu finden ist, beschreibt die Gefahr, die all jenen droht, die glauben, ohne eine solide theoretische Grundlage auskommen zu können, wenn sie »zur Tat schreiten«. Allgemein lässt sich feststellen, dass im kapitalistischen System jede Unmittelbarkeit Gefahr läuft, falsch zu sein, weil sie durch dieses System bedingt ist. Falsche Unmittelbarkeit ist also nicht nur falsch, sondern auch gefährlich. Aber trotz seiner Relevanz birgt der Begriff auch ein nicht zu unterschätzendes Risiko: Seine Verwendung kann zu einem Allerweltsargument verkommen. Versuche, praktische Konsequenzen aus der WAK zu ziehen, werden denn auch von den WAK-Autoren fast immer mit dem gleichen Vorwurf kritisiert, sie vertrauten leichtsinnig einer falschen Unmittelbarkeit. Der Tenor dieser Kritik ist ebenfalls immer gleich und lässt sich in zwei Worten zusammenfassen: »So nicht!«.
Die Gefahr, sich in den Labyrinthen der falschen Unmittelbarkeit zu verirren, ist unbestritten. Aber was ist von der bewussten Selbstisolierung zu halten, in der sich die WAK anscheinend gefällt? Sie hat Verdienste, die niemand in Frage stellen darf. Aber ihr ständiges »So nicht!« schadet ihrer Glaubwürdigkeit. Man wünschte sich, dass es durch ein »Sondern eher …« ergänzt würde. Man hat den Eindruck, dass sich die WAK schon zu lange in einem geschützten, wattierten Raum bewegt, den sie offensichtlich nicht verlassen möchte. Sie ist mittlerweile in einer Blase gefangen, der Theorieblase. Das Elend der Welt zu bekämpfen gehört entschieden nicht zu ihren Anliegen. Und doch kann die Selbstisolierung der WAK, wenn nicht gerechtfertigt, so doch zumindest erklärt werden: Ihr Untersuchungsgegenstand ist eben nicht die Tatsache des Elends der Welt, sondern die Erklärung dieser Tatsache. In der gegenwärtigen katastrophalen Situation der Welt manifestiert sich die tiefe Krise des Kapitalismus, die aber nur verstanden werden kann, wenn man einen Schritt zurücktritt und den Standpunkt der kategorialen Kritik einnimmt.
Wie dem auch sei, der Weg aus der kapitalistischen Klemme erweist sich als unendlich viel komplizierter, als man glauben möchte. Umso mehr, als sich die WAK in dieser Hinsicht leider als nutzlos erweist. Und umso mehr, als die Grundlage unseres Handelns, das, was wir gewohnt sind, als unser Ich, unseren freien Willen oder einfach unseren gesunden Menschenverstand zu betrachten, durch dieses warenproduzierende System zwar vielleicht nicht determiniert, aber doch zumindest konditioniert ist. So führt zum Beispiel die berühmte Frage, die ungefähr so alt ist wie der Begriff des Kapitalismus, was man tun muss, um aus dem Kapitalismus auszusteigen, fast unweigerlich zu einer stereotypen, immer gleichen Antwort: Die Welt braucht eine andere Wirtschaft, eine nichtkapitalistische Wirtschaft. Um den Kapitalismus zu überwinden, muss man zuerst die Wirtschaft ändern, oder besser gesagt: eine andere Wirtschaft schaffen! Diese Idee ist ein gutes Beispiel für falsche Unmittelbarkeit. Eine andere Wirtschaft schaffen zu wollen, um den Kapitalismus zu überwinden, wäre der sicherste Weg, um im System gefangen zu bleiben, das man loswerden will. Denn eine nichtkapitalistische Wirtschaft kann es nicht geben. Die WAK hat gezeigt, dass die Wirtschaft von Nordkorea über China, Europa und die USA bis hin zu Kuba und Venezuela in jedem Land der Welt, trotz aller Unterschiede im Einzelnen, auf denselben grundlegenden Kategorien basiert – Wert, Geld, Arbeit, Markt. Dies sind die Basiskategorien des Kapitalismus. Eine »nichtkapitalistische Wirtschaft« ist ein Oxymoron, d.h. eine Kombination aus zwei sich widersprechenden Elementen oder Begriffen, deren paradoxe Verbindung dem Ganzen ein überzeugendes Aussehen verleiht. Die faszinierende Idee einer nichtkapitalistischen Wirtschaft ist schlichtweg ein Hirngespinst. Um den Kapitalismus zu überwinden, muss man aus der Wirtschaft aussteigen, wie es die Bewegung der Ennemis du meilleur des mondes[2] ausdrückte.
Aus der Wirtschaft aussteigen! Ein stattliches Programm, wie De Gaulle angesichts eines unmöglichen Vorhabens sagte! Umso mehr, wenn man sich vornimmt, nicht in die Falle der falschen Unmittelbarkeit zu tappen! Müssen wir also resignieren, uns keine nutzlosen Fragen mehr stellen und uns stattdessen einer heiteren Kontemplation hingeben? Dazu werden wir täglich von der Wellness- und Selbstverwirklichungsindustrie aufgefordert. Oder sollten wir stattdessen einen entschlossenen Aktivismus an den Tag legen und uns über alle Theorien hinwegsetzen? Genau das tun Millionen von Menschen, die noch nicht einmal den Namen der WAK kennen. Sie tun dies, weil sie es nicht ertragen können, dass sich die Welt um sie herum jeden Tag weiter verschlechtert. Tatsächlich scheint die Kluft zwischen der scharfsichtigen, aber praktisch wirkungslosen WAK und den starken, aber in ihrem Mangel an Einsicht festgefahrenen Bestrebungen, sich für eine bessere Welt einzusetzen, unüberwindbar zu sein.
Es überrascht nicht, dass man bei der Durchsicht des zeitgenössischen Panoramas antikapitalistischer Programme und Projekte kein einziges findet, das den Kriterien der WAK genügen könnte. Aus einem einfachen Grund: Es ist leicht, sich selbst als antikapitalistisch zu bezeichnen und dies auch zu glauben. Aber es ist sehr schwierig, auf einer kategorialen Ebene antikapitalistisch zu sein, d.h. unter Berücksichtigung der Tatsache, dass die kapitalistische Gesellschaft auf kategorialen Grundlagen aufgebaut ist, die wir zu Unrecht für natürlich und transhistorisch halten. Nun bestünde die ebenso schwierige wie unerlässliche Aufgabe gerade darin, die Welt von diesen Basiskategorien zu befreien. Doch derzeit scheint sich keine antikapitalistische Bewegung dessen bewusst zu sein. Aus diesem Grund werden alle diese Bewegungen, wirklich alle, von der WAK kritisiert und mit einer gewissen Geringschätzung behandelt, die manchmal an Überheblichkeit grenzt. Immer gemäß der folgenden Botschaft: Ihr werdet die Welt erst verändern können, wenn ihr unsere Theorie verstanden habt!
Wenn eine Schwierigkeit unüberwindbar scheint, reicht es manchmal aus, ein Problem vom Ende her anzugehen. Methodisch kann man versuchen, die Argumentationskette am Schwanz zu packen und so zu tun, als sei das Ziel bereits erreicht. Anstatt sich zu fragen, welche antikapitalistische oder sich als antikapitalistisch bezeichnende Bewegung den Kriterien der WAK genügen könnte, kann man umgekehrt vorgehen und sich fragen, welche tatsächlich existierende Bewegung von den Verfechtern des Kapitalismus am meisten gefürchtet wird, von denen, die Marx die »Charaktermasken« des Kapitals nannte.
Nun gibt es vor allem in Frankreich zwar nicht eine Bewegung, aber einen Sammelbegriff, der bei vielen politischen und wirtschaftlichen Entscheidungsträgern Angst und Wut hervorruft: die Décroissance. Die Bedeutung des Wortes ist nicht ganz klar. Aber die negative Vorsilbe »dé« vor dem Wort »croissance« (Wachstum), das den Kern des warenproduzierenden Systems bezeichnet, löst bei den genannten Charaktermasken heftige Abwehrreflexe aus. Die Anhänger der Décroissance-Bewegung sagen mit Recht, dass »décroissance« ein explosives Wort ist, eine Waffe, die dazu dient, vor allem diejenigen zu beeindrucken, die nicht wissen, worum es eigentlich geht.
Worum geht es also? Was sind die Ideen und Forderungen der Décroissance-Bewegung? Um es gleich vorweg zu sagen: Über das gesamte Spektrum der internationalen Décroissance-Bewegung hinweg und trotz aller nationalen und regionalen Unterschiede gibt es ein Konzept, das im Zentrum der Décroissance-Galaxie steht: Es ist das Konzept des guten Lebens, nämlich die Idee, dass die kollektive und individuelle Entfaltung, das Glück, ein materiell bescheidenes Leben in einer menschenfreundlichen und solidarischen Gesellschaft zu führen, das Gegenteil einer Gesellschaft ist, die unter der Knute des wirtschaftlichen Wachstumszwangs steht. Das Symboltier der Décroissance-Bewegung, die Schnecke, symbolisiert die Verlangsamung, die die Menschen brauchen, um sich vom Wachstumsrausch zu befreien. Anders als das Wort »Décroissance« vermuten lässt, wollen die Anhänger der Bewegung jedoch nicht in erster Linie das Wirtschaftswachstum abschaffen, sondern sie sprechen sich gegen die Tatsache aus, dass die kapitalistische Gesellschaft unter dem Einfluss des Wachstumszwangs steht. Daher wird es ihrer Meinung nach darum gehen, die Diktatur dieses Zwangs zu beenden und eine Wirtschaft ohne Wachstumszwang, vielleicht sogar ohne Wachstum, zu schaffen. Da ist sie wieder, die Idee, eine andere Wirtschaft zu schaffen!
Décroissance stößt verständlicherweise auf immer mehr Sympathien. Das liegt daran, dass der Kampf für ein gutes Leben und gegen den Wachstumszwang um einiges attraktiver ist als die Abschaffung der grundlegenden Kategorien des Kapitalismus, die von der WAK propagiert wird. Man muss aber feststellen, dass das Décroissance-Programm bei den Anhängern der WAK nur Heiterkeit hervorrufen kann. Denn ganz offensichtlich attackieren die Décroissance-Anhänger den falschen Gegner. Eine Wirtschaft ohne Wachstumszwang, ähnlich wie Kaffee ohne Koffein, ist undenkbar. Wenn man gegen den Wachstumszwang ist, muss man gegen das System sein, dessen Motor der Wachstumszwang ist, d.h. gegen das warenproduzierende System, d.h. gegen die kapitalistische Wirtschaft, d.h. gegen die Wirtschaft überhaupt, d.h. gegen die Kategorien, die diesem System zugrunde liegen. Solange man diese Mechanismen nicht verstanden hat, hat man keine Chance, das System zu ändern. Die Charaktermasken des Kapitals können ruhig schlafen: Décroissance ist für das Wachstum nicht so gefährlich, wie es den Anschein hat. Wir haben sie gerade auf frischer Tat bei der falschen Unmittelbarkeit ertappt.
Die Symmetrie ist offensichtlich: Auf der einen Seite haben wir es mit einer Theorie zu tun, die die Mechanismen des Kapitalismus brillant analysiert, aber keinen praktischen Wert hat: die WAK. Auf der anderen Seite stehen wir einer Bewegung gegenüber, die immer mehr antikapitalistisch gesinnte Menschen anspricht, der es aber an theoretischer Relevanz mangelt: Décroissance. Was wäre also naheliegender, als eine Zusammenarbeit zwischen der WAK und der Décroissance-Bewegung vorzuschlagen?
Hier drängt sich eine vertiefende Erläuterung auf: Der Begriff Décroissance ist ein Sammelbegriff, der der Bewegung, die ihn für sich beansprucht, eine bemerkenswerte Popularität verschafft hat. Aber er ermöglicht auch Missbräuche, vor denen sich die Décroissance-Befürworter in der Regel nicht genügend in Acht nehmen. So gibt es zahlreiche Versuche der extremen Rechten, die Bewegung zu vereinnahmen. Das bekannteste Beispiel in Frankreich ist wahrscheinlich die Veröffentlichung des Buches Demain, la décroissance im Jahr 2007 durch den prominenten rechtsextremen Philosophen Alain de Benoist. Dieses Buch reiht sich in eine lange Reihe von Veröffentlichungen zum Thema Décroissance ein und hat daher nichts wirklich Originelles, nicht einmal im Titel. Dieser wurde von der französischen Version eines Buches von Nicholas Georgescu-Roegen aus dem Jahr 1979 übernommen. Doch der Bekanntheitsgrad von Alain de Benoist könnte die Öffentlichkeit glauben machen, Décroissance sei im Wesentlichen eine Idee von rechts. Was das Problem noch verschärft, ist die Naivität vieler Décroissance-Anhänger, die der Meinung sind, eine Décroissance von rechts sei nicht weniger respektabel als eine Décroissance von links. Das berühmteste und schmerzhafteste Beispiel hierfür ist der Mann, der von manchen als »Papst der Décroissance-Bewegung« bezeichnet wird: Serge Latouche hätte der Bewegung in seiner Rolle als führender Décroissance-Autor einen großen Dienst erweisen können, wenn er sich von Alain de Benoist und der Neuen Rechten distanziert hätte. Aber er hat sich nicht entblödet, sich mit Interviews in rechtsextremen Zeitschriften zu kompromittieren und sich an der Seite von Diego Fusaro zu zeigen, einem italienischen Professor, der gekonnt wie Alain de Benoist die Rolle des intellektuellen Tausendsassas spielt, dessen Denken der Querfront nahesteht. Die Unterwanderung der Umweltbewegung durch die extreme Rechte hat eine lange Tradition. Man hätte sich von Serge Latouche in dieser Hinsicht mehr Umsicht gewünscht.
Es ist daher verständlich, dass zwei Vertreter der WAK, Anselm Jappe und Clément Homs, 2015 ihre Zusammenarbeit mit Serge Latouche abrupt beendeten. Es ist umso verständlicher, als diese Zusammenarbeit sicher nicht die fruchtbarste gewesen ist. Wenn man das von Anselm Jappe, Clément Homs und Serge Latouche herausgegebene Buch Pour en finir avec l’économie erneut liest, stellt man fest, dass letzterer sich zwar als Antikapitalist betrachtet, aber von kategorialer Kapitalismuskritik so gut wie nichts versteht. Seine Beiträge in dem Buch zeigen, dass er gegen die Ideen der WAK offensichtlich immun ist. Von Marx ist ihm nur der »exoterische« Marx vertraut. Das ist der Marx des traditionellen Marxismus, von dem eben auch Latouche herkommt. Und Latouche ist damit nicht allein. Man hat oft den Eindruck, dass viele Wachstumsverweigerer allergisch auf die Ideen der WAK reagieren. Das mag daran liegen, dass sie sich im Allgemeinen für die antikapitalistische Avantgarde halten, und wenn man sie darauf hinweist, dass es eine Kritik gibt, die viel grundlegender ist als ihre eigene, werden sie unwillig, obwohl sie von einer Vertiefung ihres Antikapitalismus nur profitieren könnten. Und die WAK ihrerseits würde nichts verlieren, wenn sie ihre übliche Überlegenheitsattitüde aufgeben und auf die Botschaft einer theoretisch schwachen, aber in der Praxis erfahrenen Bewegung hören würde.
Wir leben in einer Zeit, die für die unzähligen Menschen, die die Hoffnung auf eine Veränderung der Welt nicht aufgeben wollen, extrem schwer zu ertragen ist. Es wäre also höchste Zeit, dass die WAK-Eule ihr übliches »So nicht!« aufgibt und dass die Décroissance-Schnecke sowohl dem verkürzten Antikapitalismus als auch der Versuchung des Querfrontpopulismus entschieden widersteht, die sie zu einer Form der Alternativwirtschaft und nicht zu einem Ausstieg aus der Wirtschaft verleiten. Das könnte zu einer wirklichen Zusammenarbeit führen. Vielleicht wäre dies der Beginn einer echten emanzipatorischen Bewegung, die der Menschheit so schmerzlich fehlt. Hoffen kann man immer.
Juli 2023, Ernst Schmitter
[1] Das gilt zum Beispiel für Tomasz Konicz, bei dem der Transformationskampf ein Schlüsselbegriff seines Denkens ist.
[2] Quelques ennemis du meilleur des mondes, Sortir de l’économie, Vierzon, Le Pas de Côté, 2012.